Handfeste Spinnereien

Mit eigens entwickelten Zellulosefasern wollen Forscher*innen eine umweltfreundliche Alternative zu Kohlenstoff- und Glasfasern schaffen. Wir haben das am internationalen Forschungsprojekt beteiligte Luxembourg Institute of Science and Technology (LIST) besucht.

Source : journal.lu
Publication date : 08/21/2023

 

Ob es am Vorführeffekt liegt oder daran, dass Montag ist? Jedenfalls streikt der Apparat. Kein Problem für Dr. Shameek Vats, der den Fehler schnell beheben kann. Der Forscher hat schon einige Erfahrungen mit der Technik gesammelt, auch mit Modellen der Marke Eigenbau. Er reinigt die verstopfte Spritze und setzt sie wieder ein. Zeit für einen neuen Versuch.

Wir befinden uns an diesem Tag in einer Außenstelle des luxemburgischen Instituts für Wissenschaft und Technologie (LIST). Was uns Dr. Shameek Vats und Dr. Carlos Fuentes-Rojas von der Abteilung für Materialforschung und Technology (MRT) zeigen wollen, nennt sich Elektrospinnen. Ja, jetzt wird es etwas technisch.

Es handelt sich um eine Technik zur Herstellung feiner Nanofasern mithilfe eines elektrischen Felds. Man könnte auch sagen: Ein Apparat verwandelt eine Flüssigkeit in eine Art Stoff. Zu diesem Zweck wird eine Lösung über einen Schlauch in eine Spritze gespeist. Die Tropfen werden dann einem starken elektrischen Feld ausgesetzt. Statt einfach aus der Kanüle zu tropfen, wird das Gemisch in kleinste Fasern aufgespalten. Der Prozess erinnert in diesem Fall ein wenig an einen Deckensprinkler in Aktion: Im richtigen Winkel kann man durch die Scheibe beobachten, wie tausende Fasern versprühen, und sich unten auf einer Art Alufolie ansammeln. Schicht für Schicht entsteht so ein Gewebe aus feinsten Fäden. Die Technik wird beispielsweise zu medizinischen Zwecken erprobt, um Organe oder menschliches Gewebe zu regenerieren. Für diesen Zweck "muss das Gewebe zufällig angeordnet sein. […] Bei Verbundstoffen ist das eine andere Angelegenheit", erklärt Fuentes-Rojas. Doch dazu später mehr.

Vor etwas mehr als einem halben Jahr fiel am LIST der Startschuss für das Forschungsprojekt BioCel3D, an dem neben der öffentlichen Forschungseinrichtung, die das Vorhaben leitet, noch die belgische KU Leuven, die Universität Maribor (Slowenien) und die Grazer University of Technology (Österreich) beteiligt sind. Involviert sind ebenfalls drei Privatunternehmen, darunter das in Luxemburg ansässige und auf 3D-Druckverfahren mit faserverstärkten Kompositmaterialien spezialisierte Unternehmen Anisoprint. In Kompositmaterialien werden verschiedene Materialien miteinander kombiniert.

Ziel des auf drei Jahre festgelegten Vorhabens ist die Entwicklung von Zellulosefasern mit hohen mechanischen Eigenschaften, die mittels 3D-Druckverfahren zur Herstellung aller möglichen Komponenten und Bauteile verwendet werden können. Im Idealfall wäre das Ergebnis eine ernstzunehmende Alternative zu bestehenden Verbundstoffen wie Kohlenstoff- oder Glasfasern. "Wir wissen heute, dass diese einmaligen Materialien Folgen für die Umwelt haben. Die Idee besteht darin, eine neue Generation von Fasern mit sehr hohen mechanischen Eigenschaften zu entwickeln", sagt der Materialwissenschaftler und Projektkoordinator Fuentes-Rojas. Spezifisch mit den im Rahmen des BioCel3D angewandten Verfahren sei es zwar "schwierig", die mechanischen Eigenschaften von Kohlenstofffasern zu erreichen. "Aber wir können Glasfaser mit Blick auf dessen spezifische Steifheit und Stärke schlagen. Und wir müssen bedenken, dass es sich um […] ein komplett biologisch abbaubares Material handelt."

Die Menschheit nutzt Karbon- und Glasfasern in vielen Lebensbereichen. Erstere werden beispielsweise in Flugzeugteilen, Rennrädern oder der Zahntechnik genutzt, während glasfaserverstärkter Kunststoff Anwendungen in Leiterplatten (Platinen), Angelbauteilen, Rutschbahnen, Rotorblättern von Windrädern oder Duschwannen findet. Es handelt sich um Materialien, die einerseits leicht sind, andererseits aber auch äußerst widerstandsfähig.

Karbonfasern wurden ursprünglich aus organischen Ausgangsmaterialien hergestellt. Ein berühmtes Beispiel sind Glühfäden aus pyrolisierten Bambusfasern, die Thomas Edison Ende des 19. Jahrhunderts für die von ihm entwickelte Kohlenstofffaserglühlampe patentieren ließ. Pyrolyse ist ein Prozess zur Spaltung chemischer Verbindungen, bei der organisches Material hohen Temperaturen unter Ausschluss von Sauerstoff ausgesetzt wird.

Kohlenstofffasern werden häufig in Kunststoffen verarbeitet, was ihre mechanischen Eigenschaften verstärkt, aber auch auf den energieintensiven Herstellungsprozess dieser Werkstoffe hindeutet. Heute werden Kohlenstofffasern meistens auf der Grundlage von Polyacrylnitrit (PAN) hergestellt. Jede*r ist schonmal mit dem Polymer in Berührung gekommen – im wahrsten Sinne des Wortes. Polyacryl wird beispielsweise in der Textilindustrie Baumwolle beigemischt und dann zu Pullovern oder Decken verarbeitet. Energieintensiv ist auch die Produktion von Fiberglas aus, ein Verbundstoff aus Glas und Kunststoff.

Dr. Carlos Fuentes-Rojas hat sich vor rund 20 Jahren auf dem Gebiet der Verbundmaterialien spezialisiert. In den vergangenen Jahren hat er sich spezifischer mit Naturfasern beschäftigt und die Eigenschaften von Kokos-, Bambus, Flachs- beziehungsweise Leinfasern studiert. BioCel3D ist das erste Projekt, das der Peruaner eingereicht hat, seitdem er vor zwei Jahren zum LIST stieß.

Grundsätzlich stehen den Forscher*innen zwei Wege zur Auswahl, um eigene Fasern nach dem Vorbild der Natur herzustellen. "Die erste Methode ist eine Top-Down-Vorgehensweise, d.h. eine bestehende Faser wie Flachs wird behandelt, um ihre mechanischen Eigenschaften zu verbessern." Ein Beispiel hat Carlos Fuentes-Rojas dabei: Super-Bambus-Fasern, die um ein Vielfaches robuster und elastischer sind als ihre unbehandelten Pendants. Die zweite Methode besteht darin, mit aus pflanzlichen oder textilen Stoffen extrahiertem Nanomaterial eine eigene Faser zu erschaffen. Diese Herangehensweise verfolgt das Team bei BioCel3D. "Wir versuchen, alles von Anfang zu kontrollieren. Es ist komplex, aber wenn es uns gelingt, sollten wir in der Lage sein, das perfekte Material zu schaffen."

Wie das funktioniert, erklärt uns Fuentes-Rojas im Labor. Zunächst muss das perfekte Zellulosegemisch gefunden werden. Zellulose ist ein natürlicher, in Pflanzen vorkommender Stoff und Hauptbestandteil von pflanzlichen Zellwänden. Die aus pflanzlichen und textilen Abfällen extrahierten Stoffe werden behandelt und vermischt. Mittels Elektrospinning produzieren die Forscher*innen daraus Fasern, die anders als bei der Demonstration nicht beliebig generiert werden dürfen. "Die Besonderheit unseres Projekts besteht darin, dass wir die Fasern einheitlich ausrichten, damit sie bessere mechanische Eigenschaften haben." Die Fasern werden chemisch behandelt, um zu verhindern, dass sie Feuchtigkeit aufnehmen, anschwellen und Risse auftreten. Sie bilden anschließend ein Garn aus parallelen Fasern, der einen Polymermantel aus Polyactiden (PLA) erhält. Wer einen 3D-Drucker zuhause hat, ist mit dem Begriff vertraut. Die meisten Filamente bestehen aus PLA auf der Basis von Milchsäuremolekülen, die biologisch abbaubar sind.

Was dabei herauskommt, ist ein Kompositmaterial, das in einem 3D-Druckverfahren in alle möglichen Formen gebracht und zur Herstellung verschiedenster Bauteile verwendet werden kann. In einer zweiten Projektphase soll der Verbundstoff später "unter realen Bedingungen" getestet werden. "Wir werden den Kollegen von der Universität Leuven das Filament zur Verfügung stellen und sie werden in der Lage sein, damit zu drucken." Um die Umsetzbarkeit des Konzepts zu prüfen, soll das Grundgerüst eines Autositzes gedruckt werden.

Doch bis es so weit ist, steht den Forscher*innen noch etwas Tüftelei ins Haus. Denn die verschiedenen Prozesse zu optimieren und Einflussfaktoren auszutarieren, ist keine einfache Angelegenheit. Der Postdoktorand Shameek Vats vergleicht die Forschungsarbeit damit, "das richtige Rezept zu finden, während man backt". Um bei dieser Analogie zu bleiben, müssen nicht nur die Temperatur des "Ofens" (die Umgebungstemperatur und -feuchtigkeit im Elektrospinning-Gerät) oder der Zutatenmix (Zusammensetzung der eingespritzten Lösung) stimmen, sondern auch die Geschwindigkeit, mit der die Flüssigkeit durch die Kanüle der Spritze abgegeben wird, der Abstand zwischen Kanüle und Kollektor oder die angewandte Spannung. Das ist noch nicht alles. Die anschließend von einer Polymerlösung ummantelte Faser muss zudem einem mechanischen Belastungstest standhalten und sich nicht zuletzt auch im 3D-Druckverfahren bewähren.

Doch Carlos Fuentes-Rojas gibt sich zuversichtlich. "Binnen der drei Jahre sollten wir in der Lage sein, eine Struktur wie einen Autositz zu drucken." Die nächste Etappe ist zudem bereits geplant. "Wir sind dabei, ein Horizon-Projekt einzureichen." Mithilfe europäischer Fördergelder soll eine Produktionslinie aufgebaut werden, die die Produktion der Fasern in größerem Maßstab erlauben würde. "Dann sollten wir in der Lage sein zu ermitteln, wie teuer dieses Verfahren in einem industriellen Rahmen ist." Eine durchaus spannende Frage, da beispielsweise Kohlenstofffasern aufgrund des hohen Preises bislang eingeschränkt verwendet werden, beispielsweise in Supersportwagen, gleichzeitig allgemein von einer steigenden Nachfrage nach leichten, aber robusten Verbundstoffen auszugehen ist.

Ein wachsendes Interesse der Industrie sei jedenfalls feststellbar, sei es aus eigener Überzeugung von Flugzeug- oder Automobilherstellern und/oder weil die Politik den Druck auf die Industrie erhöht. Auch die Finanzierung für die Erforschung nachhaltiger Materialien sei heute einfacher als noch vor zehn Jahren. Fuentes-Rojas zeigt auf eine Rolle mit einem aufgewickelten Carbon-Strang. "Ich würde behaupten, dass wir 80 bis 90 Prozent der Fasern, die heute auf dem Markt sind, ersetzen können und vielleicht sogar High-End-Materialien wie Karbonfasern." Den Beweis wird man abwarten müssen.

Christian Block

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